Joseph Zehrer
K-Wies’n
Da sitzt also beim Frühstück im Chelsea in Köln die Gruppe FSK, die am Vorabend ein Konzert gaben, in das ich nicht gehen konnte, weil mein Fuß nicht mitwollte. So bin ich also ins Hotel gehumpelt und dann saßen wir alle da in unserem Alter. Wilfried, einer der Musiker, zeigte mir das Dummy für ein Buch mit seinen Fotografien zur Kunst, das noch einen musikalischen Zwischentitel hatte, den sie unter sich beziehungsreich hin und her schoben, was ich mir aber nicht merken konnte. Es wurde darüber geredet, wer gestern im Konzert war, wer vermißt wurde, und wer zu spät kam, und daß viele aus der Kölner Musikszene letztes Jahr im Münchner Oktoberfest waren.
Die Chelsea-Geschichte vom Hinken und Kranksein und der besseren Luft in München, das Brot, und ich erzähle meine Oktoberfestgeschichte im Chelsea, in das ich gehumpelt bin und noch nicht wußte, was das bewirkte und wie es sich auswirken wird. Die Wirkung des Oktoberfestes auf die Kunst dadurch, daß ich jedes Jahr zwei Wochen, täglich an meinem üblichen Weg von Wohnung ins Atelier durch 1 Million Menschen, 1 Million Maß Bieren, 100 000 Brathähnchen, 200 000 Rostbratwürsten, 10 000 Steckerlfischen, einem Ochsen, Brez'n, Radis, Zigarren, Zigaretten und Zuckerwatten, in beide Richtungen zu gehen gehindert wurde. Behindert, weil ich keinen Umweg machen wollte und immer mitten durch mußte und dabei immer Hunger und Durst bekam und nie im Atelier ankam, ohne auf dem Oktoberfest morgens wenigstens eine Fischsemmel gegessen und abends auf dem Rückweg eine Maß Bier getrunken zu haben. Jeden Morgen habe ich zu Hause noch extra viel gegessen, um diesmal den Wies'ndüften widerstehen zu können. Ich hab’s nie geschafft. In der übrigen Jahreszeit ist die Wies'n ein See aus Schnee, Kamille oder Kies. Flatz mit Hitler hab’ ich da mal getroffen. Wenn die Theresienwiese allerdings völlig leer ist, daliegt wie eine riesige Platte mitten in einer provinziellen Großstadt, wirkt sie absurd wie ein Denkmal, bei dessen Anblick man nicht über wirtschaftliche Interessen nachzudenken hat. Es ist der einzige Platz der Welt, der nur für eine fünfte Jahreszeit bereit gehalten wird. Womit in München eigentlich die Starkbierzeit gemeint ist, aber die war für mich ein übliches christlich-bayrisches Procedere.
Der Aufbau des Oktoberfestes ist das Schönste, was ich beim Entstehen von etwas Großem kenne. So schön, daß ich nie dachte, es fotografieren zu können. Die Gerippe der riesigen Zelte ohne Planen, wie sie im Juli und August hochgezogen werden, wenn es schon Kantinen mit Bierausschank im Freien für die Arbeiter gibt und jeder sich dazusetzen kann. So unvollendet müßte es bleiben. Doch Ende September ist es am Interessantesten und für mich am einschneidendsten gewesen. Aber eine Auswirkung auf die Kunst? Als wir da im Chelsea saßen, sagte jedenfalls die FSK, Herr Ink hätte nach seinem ersten Oktoberfestbesuch 1998 eine Oktoberfestplatte rausgebracht, die man sich im Kompakt-Laden holen könnte. Die Kompakt-Leute hatten mir aber auch beim Steirischen Herbst 98 in Graz schon erzählt, sie kämen gerade vom Oktoberfest. Sie standen alle auf den Tischen und Herr Ink scheint dabeigewesen zu sein.
Aber ich war einmal allein auf der Wiesn. Bin gleich zur Fischer-Vroni, in mein Lieblingszelt, um zu sehen, ob die Gebrüder Moosauer aus meiner niederbayrischen Heimat Niederbayern spielen, und was sag' ich, sie taten's. Ich ging zur Musi und der Moosauer Edi, der der Kapellmeister war, sah mich und gab mir von der Bühne herunter die Hand und das sah wiederum in der Menge von 5000 Leuten der Schaschko Hias, den das so furchtbar beeindruckte, daß er durch das ganze volle Zelt meinen Namen schrie, was mich wiederum so beeindruckte, daß ich vor lauter Bekanntheitsgrad tief errötete und mich zu Hias und seinen Freunden setzte, und wir eine Maß tranken und no a Maß und no a Maß. Ja, so war's.
Ich glaube, der Einfluß des Oktoberfestes auf die Kunst ist enorm, aber nicht unbedingt im Guten. Die Münchner Kunstszene war relativ bedeutungslos und selbstbeschaulich. Ich habe da nicht viel gelernt. Der Baschang war als Lehrender das Beste, was ich da erlebte, weil auch das Schwierigste für mich. Ich bin mit dem Oktoberfest besser zurecht gekommen als mit Baschang als Akademieprofessor. Was nicht allein an ihm lag. Ich wollte tatsächlich mit meiner niederbayrischen Sturheit, im Kraftfeld des Niederbayern Alexeij Sagerer, die Kunst herumzureißen, ohne zu wissen, wo der Hebel anzusetzen gewesen wäre. So bin ich mit meinem Hebel in der Hochschule von Professor zu Professor und fand keine Kiste , die noch zu öffnen gewesen wäre. Also habe ich mich in die Bibliothek gesetzt und den Hebel erstmal neben die Bücher gelegt. Hallo Frau Schimmel, ihre Kiste war die Offenste. Der Weg übers Oktoberfest ist selten von lntellektualität begleitet. Einmal ging ich auch mit Herrn Crayola über die Theresienwiese als sie leer war. Von der Bavaria Richtung Atelier am Südfriedhof, nähe Sendlinger Tor. Am Wies’nrand ein Fotografierender, der die bronzene Lady aufnehmen wollte, aber da waren auch wir. Ich trug Crayolas Gitarrenkoffer, Red seine Jacke, Sommer. Red rief den Mann an, nicht zu fotografien, der sah aber nur die Bavaria. Red hielt sein Jackett vors Gesicht und rannte auf den Mann zu, der merkte jetzt den Ernst dahinter, da war er aber schon fürchterlich beschimpft. Der Einfluß der Wies'n ohne Oktoberfest auf die Kunst, war in diesem Moment für mich enorm. Wenn jemand sagt, auch wenn er schon Legende ist, daß er nicht fotografiert werden will, so hat das Objektiv gefälligst nach unten zu zeigen, am besten auch noch den Blick senken und Lippen schmal werden lassen. Red war damals auch Titelgeber für einen B.O.A.-Filmabend: besser rot als tot.
Ich bin aus München nicht weggegangen, weil ich die Stadt schrecklich fand, gerade das Gegenteil war der Fall. Jeden Tag bin ich meine Wege gegangen und habe alles so gut gekannt, daß ich nichts mehr gesehen habe. Und wenn ich dann wieder mal hochgeguckt habe, um etwas zu suchen, habe ich nichts gefunden. Keine Stadt, keine Kunst, nur andere Apathische und Freunde bei Bier und Brot. Nur immer hin und her über die Theresienwiese, Winter wie Sommer, Tag und Nacht. Wer in dieser Stadt Kunst machen und sie auch noch zeigen wollte: ab in den Keller. B.O.A., in den Keller. Atelier, in den Keller. Stimmung, im Keller. Geld, nirgends. Tageslicht: nur auf der Wies'n. Einen Auftrag, wie Wilfried, diese Stadt ins Bild zu setzen, hatte ich nicht. Jetzt merke ich, daß Wilfried, in seinen mit dem Skalpell gezogenen Fotomontagen, meine damalige Situation skizzierte. Nicht in seinen täglichen Aufträgen, sondern was er als Künstler mit diesen Aufträgen gemacht hat, ist die ewige Frage: (ja), wo bin ich (denn)? Bin ich im Kunstverein oder im K-Raum Daxer, im Haus der Kunst oder im Lenbachhaus, ist das die Schiller- oder die Goethestrasse, Innen oder Außen, Nagel oder Hetzler. Das waren damals so Fragen. Bin ich (lieber) in München oder (besser) in Köln?, das war meine. Petzi hat daraus ein UND gemacht, und zwei Räume gleichzeitig ins Bild gesetzt. Entweder, weil er die Räume nicht mehr auseinanderhalten konnte, vielleicht eine fototraumatische Irritation, oder aus praktischen Gründen, um zwei Aufträge mit einem Print zu erledigen. So oder so, es ist was es ist, eine Fotomontage, die uns auf sehr witzige Weise den beliebten bayrischen irrealis vorspielt: Wenn i, hätt' i, war' i.
Ich hab' dann auch aus dem Oder ein Für gemacht, denn die Kraft, mich in dieser Stadt nochmal rumzureißen, hatte ich nicht mehr. Meinen akademisch etwas verbogenen Hebel mußte ich nur an mir selber ansetzen, und in Köln gab es schon länger verlockende Angebote. Es war dann doch plötzlich sehr einfach. Ich mußte den Kopf wieder heben, denn die neuen Wege waren zwar nicht neu, aber anders und an K-München habe ich bald nicht mehr gedacht. Die Wege über die Wies’n habe ich angefangen zu vermissen. Zu allen fünf Jahreszeiten.
aus der Publikation
Rough Mix - Fotografien zur Kunst
Wilfried Petzi
Verlag Mosel und Tschechow, 1999
Veröffentlichung auf dieser Site mit freundlicher Genehmigung
von J. Zehrer & W. Petzi.
Danke!